Die wilde Freude.

Skizze von Teo von Torn.
in: „Neues Wiener Journal” vom 26.05.1903,
in: „Unterhaltungsblatt der Badischen Presse” vom 27.05.1903,
in: „Agramer Zeitung” vom 06.06.1903


In Tolstoi's „Familienglück” ist von der wilden Freude die Rede, die Maria Alexandrowna an Sergius so sehr gefallen hatte, als sie noch Liebesleute waren.

Wie Detlef Westphäling davon las — es war im Winter, als der Luschenhof auf Fehmarn zum erstenmale im Flugschnee lag — konnte er sich zunächst kein rechtes Bild davon machen.

Wilde Freude — —! Wenn die Fohlen im Frühjahr auf die Koppel gelassen werden und es ist gerade ein schöner Tag mit so einer frischen salzigen Prickelluft von der See her, dann recken wohl einige die Nüstern und den Schweif auf, wiehern wie besessen und rennen im Kreise herum bis zum Umfallen; andere stellen sich breitbeinig hin und keilen ohne vernünftige Ursache hinten und vorne aus — immerzu — hinten und vorne. Da konnte man vielleicht von so was reden. —

Ja, und dann hatte auch mal dem Knut Suerssen sein Aeltester auf dem Krammarkt in Burg ein Seiltänzergerüst eingerissen — rein aus Vergnügen über die Künste einer kleinen Gauklerdeern, die bei der Geschichte das Schlüsselbein brach. Das wurde damals als eine gewöhnliche Jungsdummheit aufgefaßt,für die es denn auch ganz gehörig was achter vor gegeben hatte. Wenn's aber eine wilde Freude gewesen war, dann war das in dem Buche immer noch nicht zu verstehen. Kleine Jungs und Fohlen — na ja. Aber ein ausgewachsener Mensch? Einer, der fast schon zu alt war zum Heiraten?

Detlef Westphäling kam nicht viel zum Lesen. Wenn er aber las, mußte ihm jeder Satz und jeder Gedanke vollständig klar sein — auch der beiläufigste — und das war eigentlich nur der Fall, wenn er in seinen eigenen Beobchtungen und Erfahrungen ein Analogon hatte. Fand er das nicht, dann grübelte er — wie auch jetzt wieder. Die braunen, bis zu den Fingerknöcheln blond behaarten Fäuste unter das Kinn gestemmt, starrte er über den Tisch und über den weißen Nacken seines Mündels hinweg in den Kamin, in dessen Schlot der Schneesturm rumorte. Seine Augen nahmen sich wie todt aus in ihrer lichten Farblosigkeit und mit dem unbewegten bohrenden Ernst. Nur wenn der Sturm den beizenden Qualm des Dungfeuers, auf dem der abendliche Buchweizenpfannkuchen puffte und brodelte, in gar zu dichten Schwaden auf die Diele hinausdrückte, dann zwinkerte Detlef Westphäling mit den wimperlosen Lidern, und man sah, daß seine Augen nicht todt, sondern blos nachdenklich waren.

Aber er brachte es nicht zusammen, wie ein ausgewachsener Mensch, der schon fast zu alt war zum Heiraten, zu einer wilden Freude kommen und sich in einer solchen anstellen mochte. Auch die Ann' Marein konnte sich kein Bild davon machen, als er sie danach fragte — ebenso wenig wie der Candidat Hein Bade, Detlef Westphäling's Brudersohn, der sonst eigentlich Alles wußte. Die Beiden hatten sich einen Augenblick wie erschrocken angesehen, dann den Kopf geschüttelt und sich ihrer Beschäftigung wieder zugewandt. Hein Bade zeichnete allerhand Figuren auf den Rand seines Predigtbuches und Ann' Marein flickte weiter an dem Fischkätscher. Wenn der Sturm sich ein Weilchen ausruhte im Kamin, dann war es so still, daß man das schleichende Ticken der alten Kastenuhr hörte, mit all ihren asthmatischen Nebengeräuschen.

Auf dem Luschenhof wußte kein Mensch etwas von der wilden Freude, die Maria Alexandrovna an Sergius Michaelowitsch so gefallen hatte, als sie noch Liebesleute waren.

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Dem strengen Winter folgte in jähem Wechsel ein warmes Frühjahr, das auf der Insel binnen kaum einer Woche volle Lenzarbeit that. Wie von Mittwoch auf Donnerstag schmolzen die pelzigen Schneemassen aus den Ecken der kleinen, tiefliegenden Hoffenster, und Ann' Marein brauchte nicht mehr vor die Thür und auf den Deich hinauszutreten, wenn sie über den Sund hinweg nach der fernen Festlandsküste schauen wollte.

Das hatte sie oft gethan, seit Hein Bade bald nach Drei Könige wieder hinübergefahren war, um an der Lateinschule von Pastor Schmick in Gremsmühlen auszuhelfen, bis er seine Berufung nach Burg bekam.

Detlef Westphäling trieb zum erstenmale wieder seine Fohlen zwischen die mit lichtem Junggrün betupften Knicks und machte erwartungsvolle Augen — aber die Thiere thaten nicht, was sie nach Ansicht und Erfahrung ihres Herrn nun eigentlich thun mußten. Sie schnupperten mit geblähten Nüstern in der märzfrischen Luft, rieben die Hälse übereinander und trabten wohl auch nach jenen Stellen der Koppel, wo aus den braunen Grasnarben vom vergangenen Jahre neue Halmbüschel sproßten. Aber es war nicht wie ehedem — und da Detlef Westphäling sie genauer betrachtete, schienen sie ihm auch nicht so gepflegt wie ehedem.

Diese Beobachtung faßte ihn wie ein Schreck und gleich nachher wie eine brennende Verlegenheit. Es war Thatsache, und je mehr er nun darüber nachdachte, desto klarer wurde es ihm: er hatte sich in diesem Winter um sein Vieh viel weniger gekümmert als früher. Er war nur tagsüber ein oder zweimal in den Ställen gewesen, um den Knechten auf die Finger zu sehen. Abends eigentlich nie. Da hatte er unentwegt an dem Eichentisch gegenüber dem Kamin gesessen und in dem merkwürdigen Buche gelesen.

Er war in diesem „Familienglück” noch auf manches Unverständliche gestoßen — unverständlicher fast als die wilde Freude bei einem ausgewachsenen Menschen, der eigentlich schon zu alt war zum Heiraten — — und doch heiratete.

Wenn er dann — wie immer beim Nachdenken — die Augen auf das Kaminfeuer gerichtet, hatte ihn eine feste weiße Nackenlinie abgelenkt, eine Linie, deren blonde Kraushärchen bei aufflammendem Feuer wie gesponnenes Gold flimmerten.

Daß er die Wirthschaft und speciell seine Fohlen vernachlässigt, das war sein Schreck. Die brennende Verlegenheit aber kam ihm, als er sich bewußt wurde, daß er den halben Winter einzig wegen jener Nackenlinie vor dem Kamin gesessen hatte. Er — Detlef Westphäling, der Luschenhofbauer, den auch die ältesten Mädchen von Fehmarn längst aufgegeben hatten. Er blinzelte nach rechts und links in die kühlsonnige Landschaft und suchte argwöhnisch nach Jemand, der ihn auslachte.

Zu Hause schloß er sich in die gute Stube ein und holte die Bibel vom Bücherbord. Mit suchendem Finger fuhr er eine reihe von Familienaufzeichnungen entlang, bis er die rechte hatte: Anna Maria Katharina Hamson — — am heurigen zweiten Pfingsttage wurde sie achtzehn Jahre. Genau. Und just an demselben Tage war er der Sorge um Hein Bade enthoben, der dann in der Stiftskirche zu Burg seine Antrittsrede hielt. Wie das zusammentraf — als wenn es der Herrgott so gefügt hätte. Im Grunde konnte er doch für die Ann' Marein gar nicht besser sorgen, als wenn er der Waise den Luschenhof sicher machte für alle Zukunft, indem er sie zu seinem angetrauten Weibe nahm. Daß er dann selbst noch ein Stückchen warmes, sonniges Leben abkriegte, das war nicht die Hauptsache — ganz gewiß nicht. Er hatte ja bisher immer nur für Andere gesorgt. Aber schon der Geanke allein war so schön, so wunderbar schön, daß die farblos hellen Augen des Dithmarsen einen ganz eigenen Glanz annahmen.

„Also am Pfingstmontag —”

Wie zur Bekräftigung seines Entschlusses stieß er einen Stuhl auf den Boden — und als er nun ein Stück Lehne in der knorrigen Faust zurückbehielt, wunderte er sich gar nicht darüber. So ungefähr mußte Knut Suerssen Aeltestem zu Muthe gewesen sein, als er damals das Seiltänzergerüst einriß.

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Hein Bade hatte so ergreifend gesprochen, wie noch kein Prediger auf Fehmarn. Einige alte Frauen vom Johannesstift wollten gesehen haben, wie eine der apostolischen Feuerzungen über seinem Haupt geflammt. So herrlich war es gewesen.

Keine Begeisterung aber reichte an die Herzensseligkeit von Ann' Marein. Als der junge Pastor aus der Kirchenthür trat, fiel sie ihm lachend und weinend um den Hals und küßte ihn vor allen Leuten — und die Leute freuten sich dessen und gratulirten.

Als man aber auch den Ohm beglückwünschen wollte, war er nicht zu finden. Einige wollten wissen, daß er in der Weinstube von Roloff sei. Da war er wohl gewesen, aber schon wieder fort. Er habe ganz zerfahren und verdöst hantirt. Da auch das Fuhrwerk nicht zu finden war, machten sich der Pastor und seine Braut zu Fuß nach Hause.

Sie waren so mit sich selbst und ihrem Glücke beschäftigt, daß sie eines hinter ihnen herrasenden Fuhrwerks zunächst nicht achteten. Erst auf gellendes Johlen und Peitschenknallen wichen sie zur Seite.

Detlef Westphäling jagte unter Heihoh und Hurrah wie ein Wahnsinniger vorüber . . .

Erst standen sie Beide verdutzt; dann beschwichtigte Hein Bade die bis in die Lippen erblaßte Ann' Marein.

„Die wilde Freude — —” sagte er lächelnd. „Er wird uns zu Hause empfangen wollen.”

Als sie aber daheim ankamen, sahen sie, daß die Wagenspur am Hofe vorbei den Deich hinaufführte — und darüber hinweg . . .

T e o   v o n   T o r n

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